Eigentlich war ich ja auf der Suche nach einem besonderen Rahmen. Unterwegs habe ich mich dann aber verliebt: in einen osmanischen Ohrring aus dem 19. Jahrhundert. Nun schmückt er meine Wohnzimmer-/Schreibtischecke, und ich freue mich jeden Tag über ihn und habe Bilder aus dem antiken Orient im Kopf:
Es war noch früh am Morgen, der erste Hauch der Morgendämmerung am Horizont zu erahnen, als Aisha sich leise anzog. Niemand sollte sie sehen oder hören, wenn sie diesen Ort verließ. Sie tastete nach ihrem größten Schatz, dem Ohrring ihrer Mutter, und das einzige Andenken, das ihr von ihrer Mutter verblieben war. Ihre Mutter hatte ihn einst von Aishas Vater geschenkt bekommen, als dieser sich Hals über Kopf in diese ausnehmend schöne und lebenslustige Frau verliebt hatte, deren Augen wie leuchtende Sterne funkelten. Aisha presste den Ohrring, den sie sich an eine lange Schnur um den Hals gehängt hatte, fest an sich, packte ihr fertig geschnürtes Bündel, das nur wenige Habseligkeiten, eine warme Decke für die Nacht und ausreichend Datteln, Feigen und Nüsse enthielt, ergriff ihren prall gefüllten Wasserschlauch und schlich sich leise aus dem Haus. Es war nicht weit bis zum Stadttor, das wohl gerade erst geöffnet worden war. Im dunklen Schatten der Häuser erreichte sie das Tor unbesehen. Auch die beiden Wachen waren nirgends zu sehen, vermutlich brühten sie sich einen Morgentee, um diese Zeit gab es noch keine Besucher.
Lautlos schlich sie aus der Stadt. Zwei Tage Fußmarsch lagen vor ihr, um das nächst gelegene, größere Dorf zu erreichen, das auch nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Ninive sein würde. Noch einmal drehte sie sich um nach ihrer Stadt, in der sie nun – nach dem Tode Ihres Vaters – auf keinen mehr zählen konnte …